Hugo Cabret (2011) | Film, Trailer, Kritik (2024)

Hugo Cabret (Asa Butterfield) ist ein Waisenjunge, der es sich – wir schreiben die späten 1920er Jahre – in den Gemäuern eines Pariser Bahnhofs halbwegs häuslich eingerichtet hat. Von seinem Vater (Jude Law), einem Uhrmacher, hat er nicht nur viel Wissen über dieses Handwerk geerbt, sondern auch einen Automaten, einen mechanischen Menschen, der offenbar schreiben kann. Vermutlich hat er einmal einem Zauberer gehört, und wenn Hugo ihn nur reparieren und sein Uhrwerk aufziehen könnte, würde er vielleicht eine Botschaft seines Vaters offenbaren…

Das ist die Ausgangssituation von Martin Scorseses visuell aufregendem Hugo Cabret, der sich zuerst ganz und gar als leicht mystisch aufgeladener Abenteuerfilm für Kinder ausgibt, um nach und nach die Richtung zu wechseln: Am Ende ist das 3D-Spektakel eine tiefe Verneigung vor den rauen, begeisterten Anfängen des Kinos und insbesondere vor seinem Protagonisten Georges Méliés.

Hugo Cabret beruht auf dem Roman Die Entdeckung des Hugo Cabret von Brian Selznick, einem amerikanischen Autor und Illustrator; schon das ist ein sehr hybrides Buch, eine Mischung aus Graphic Novel und konventioneller Erzählung, in dem ganze Szenen der Geschichte nicht über Text, sondern ausschließlich über schweigsame Bilder transportiert werden, monochrome Zeichnungen und gelegentliche Filmstills – Harold Lloyd, am Zeiger einer großen Uhr hängend, gehört zu den wichtigsten Bildern auch des Films.

Die visuelle Zurückhaltung ist freilich Scorseses Sache nicht; stattdessen lässt er ein fantastisches Paris auferstehen, in dem die kalten Winternächte draußen in eisigen Blautönen, das Innenleben des Bahnhofs aber warm in braun, rot und gold leuchtet. Selbst Patina- und Rostflecken scheinen da noch zu glänzen. Die Oberflächen wirken hier immer etwas zu poliert, die Maschinen etwas zu glatt laufend – das ist, vor allem im ersten Drittel des Films, in dem Uhrwerke und Mechanismen eine sehr große Rolle spielen, oftmals wie Steampunk ohne Punk: Eine bewusst romantisierende Version der Vergangenheit, in der die glänzenden Maschinen ihre Unschuld noch nicht verloren haben.

An diesen Stellen wird deutlich, wie sehr der Regisseur sich nur für die Oberfläche der Dinge interessiert, denn die Antithese zu dieser Unschuldsvermutung, der Erste Weltkrieg mit seinem mechanisierten Morden, ist dem Film ebenso fest eingeschrieben als Zäsur in den Lebenswegen der Figuren, die er auffächert; man hat fast den Eindruck, Scorsese versuche das aus den Bildern zu tilgen, indem er vom Krieg nur Bilder zeigt, in denen Maschinen keine Rolle spielen.

Im Bahnhof treffen sich lauter kleine Lebens- und Liebesschicksale, die Scorsese als skurrile Seitenstränge seiner Erzählung à la Amelie einführt, dann aber recht stiefmütterlich behandelt: der Bahnhofsvorsteher (Sacha Baron Cohen) verehrt die Blumenverkäuferin (Emily Mortimer); zwei Stammgäste des Bahnhofslokals (Richard Griffiths, Frances de la Tour) finden nicht zueinander. Hugo immerhin freundet sich mit Isabella (Chloë Grace Moretz) an, ebenfalls ein Waisenkind, deren Pate und Ziehvater Papa Georges (Ben Kingsley) einen kleinen Spielzeugladen im Bahnhof betreibt und mit dem Hugo in Konflikt gerät, als er versucht, mechanische Teile zu entwenden, um den Automaten seines Vaters zu vervollständigen.

Der Maschinenmann ist schließlich das Scharnier, an dem die Geschichte die Richtung wechselt – sobald die Kinder Papa Georges mit dem vergessenen und totgeglaubten Georges Méliès identifizieren können, wird deutlich, welche Richtung Selznick mit seiner Erzählung nehmen wollte, und wohin Scorsese mit aller Kraft strebt: Hin zu einer Feier und Lobpreisung von Méliès‘ Kino, den Filmen dieses „ersten Magiers des Kinos“, wie ihn eine viel gepriesene DVD-Ausgabe seiner erhaltenen Werke nennt.

„In meinem Filmstudio werden deine Träume gemacht“, lässt Scorsese sinngemäß Méliès in einem Rückblick zu einem kleinen Jungen sagen (und später ist es das Knattern eines Filmprojektors, der den verbitterten Méliès aus der Reserve lockt), und der große Meister des Gegenwartskinos gibt uns mit all seiner Macht und Bildgewalt zu verstehen, welche Bedeutung wir seiner eigentlichen Hauptfigur zuschreiben sollten. In einer Szene, in der sich Méliès vor seinem Studio ablichten lässt, spielt Scorsese sogar selbst den Fotografen: Der Regisseur als Hüter der Filmgeschichte, in dessen eigenen Bildern immer die Vergangenheit mit zu sehen ist.

Das ist toll und kraftvoll und etwas anmaßend; leider aber wird es dann auch behäbig, belehrend und ein wenig leblos. Hugo Cabret liefert dem Zuschauer im Grunde eine Selbstanalyse, als Hugo seiner Freundin erzählt, wie er die Welt sieht: als große Maschine, in der jedes Teil seinen Platz und seine Funktion habe, auch er, auch Isabella. Schon in der allerersten Einstellung des Films hatte man den Eindruck, dass Scorsese sich eine solche Weltwahrnehmung zu eigen gemacht hat, als er ein dahintickendes Uhrwerk per geschickter Überblendung in die Stadt Paris verwandelt.

Das Mechanische spiegelt sich auch im Dahinschnurren der Geschichte, die in der zweiten Hälfte flüssiger, aber vorhersehbar wird – was fehlt, ist der Funken, der den Zahnrädchen Leben verleiht. Die zum Teil großartigen Schauspieler wollen ihn nach Kräften leuchten lassen, und man sieht ihn in den Augen von Kingsley und Helen McCrory (als Méliès‘ Frau und Muse), man erahnt ihn im abenteuerlustigen Grinsen von Moretz. Aber die Geschichte von Hugo und Isabelle (und ihre Beziehung zueinander) bleibt eine leblose, funktionale Angelegenheit, die den Zuschauer nicht und, wie das Finale zeigt, Scorsese nur aus rein narrationsmechanischen Gründen interessiert.

Und so bleibt von Hugo Cabret ein Staunen über die Kraft des Kinos, eine weitgehend atemberaubende Reise durch die Möglichkeiten der Leinwandzauberei von damals und heute, die sich ihre Faszinationskraft auch mit einiger Romantisierung erkauft. So präsentiert der Film den Niedergang Méliès‘ hauptsächlich als Folge des ersten Weltkrieges, während doch die Herausbildung eines sehr kompetitiven Filmgeschäfts – nicht zuletzt durch Konkurrenz aus Amerika – mit ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein dürfte, warum Méliès in Schwierigkeiten kam.

Aber letztlich ist das auch egal: Scorsese möchte mit Hugo Cabret dem großen Georges Méliès ein Denkmal setzen und uns alle dazu bringen, seine Filme anzusehen. Und das gelingt, sehr sogar: Nichts möchte man mehr, als sich sogleich ganz dem alten Magier hinzugeben. Allein, wo bleiben die Retrospektiven?

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